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Ein magischer und schöner Moment. Der Sonnenuntergang in Naples wird täglich von vielen Zuschauern bestaunt. (Foto:©Scott Pehrson)
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Romantischer Augenblick - viele Paare genießen die entspannte Stimmung zu zweit. (Foto:©Scott Pehrson)
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Die Pier ist bei Fischern zu jeder Tageszeit beliebt. (Foto:© Christoffer Hansen Vika)
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Auch vom Strand ist der Sonnenuntergang ein wahrer Augenschmaus. (Foto:© Christoffer Hansen Vika)
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300 Meter ragt die Holz-Konstruktion in den Golf von Mexiko. (Foto:© Ryhor M Zasinets)
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Die Pier wurde über die Jahre von mehreren Hurrikanen zerstört... (Foto:© Vilmos Varga)
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... und immer wieder aufgebaut. (Foto:© Vilmos Varga)
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Auch am Tage einen Besuch wert: Die Naples Pier. (Foto:© Ivan Sgualdini)
Lucy hat es natürlich geahnt. »Wenn wir ein bisschen früher abgefahren wären, müssten wir uns jetzt nicht mit all den anderen um die Parkplätze streiten.« Natürlich übertreibt sie wieder. Sicher, der Verkehr auf dem Gulf Shore Boulevard hinter der Naples Fishing Pier ist lebhaft. Aber ist das ein Grund, gleich die Nerven zu verlieren? Sind doch alles ganz nette Menschen hier. Gleichgesinnte, gewissermaßen. Weil sie alle ein Ziel haben: dabei zu sein, wenn der rote Feuerball in einer guten halben Stunde im Golf von Mexiko versinkt.
Nach einigem Suchen in den Seitenstraßen südlich der 12th Avenue South finden wir doch noch einen Parkplatz, nur ein paar Gehminuten von der Pier entfernt. Wir eilen über die kleine Holzbrücke zum Strand. Die tief am Horizont stehende Sonne taucht schmusende Pärchen, bocciaspielende Familien und einsame Strandläufer bereits in goldenes Licht.
Wir stolpern über den Strand in Richtung Pier. 300 Meter ragt die Konstruktion in den Golf von Mexiko, gebaut aus Holz und Zementpfeilern. In den Tagen, als Naples nur mit dem Schiff erreichbar war, spielte sich an der Pier das Leben ab. Schon ein paar Mal haben Hurrikane sie weggepustet, zuletzt »Donna« im Jahre 1964. Doch wurde sie immer wieder aufgebaut – und immer wieder trotzt sie Wind, Wellen und Wetter. Und auch den Menschenmassen, den Schaulustigen, Spaziergängern und Anglern, die sich tagtäglich einfinden. Und natürlich den Sunset Watchern wie uns, die jeden Abend wieder einen der atemberaubendsten Sonnenuntergänge der Welt erleben wollen.
Es bleibt noch eine Viertelstunde. Zunächst klettern wir die kleine Holztreppe hoch auf die Pier. Es herrscht ein munteres Geschnatter in allen Sprachen dieser Welt: Touristen aus England (»look, how lovely the dolphins are frolicking in the water!«), Familienclans aus Mexiko mit Kind und Kegel, deutsche Snowbirds aus Schwaben und Berlin, jugendliche Angler mit coolem Gehabe – sie mischen sich zu einer abendlichen Melange aus Anspannung und Vorfreude.
Lucy lässt sich von all dem nicht beeindrucken und drängt darauf, so schnell wie möglich an das Ende der Pier zu marschieren, wo sich der hölzerne Plankenpfad zu einer breiten Plattform mit überdachtem Unterstand verbreitert. Also schieben wir uns gemeinsam mit all den anderen Sonnenuntergangs-Süchtigen in Richtung Ende. Es wird Zeit, der rote Feuerball senkt sich schon nahe an die messerscharfe Kante des Horizonts. »Wir haben Glück heute«, sagt eine ältere Dame, »gestern zogen im letzten Moment noch Wolken vor, wir konnten dann nichts mehr sehen.«
Lucy drängt weiter nach vorn. Typisch, immer darauf bedacht, die besten Plätze zu ergattern. Aber was sind schon die besten Plätze? Für mich ist es mindestens ebenso interessant, die Menschen zu beobachten. Die kindliche Begeisterung in ihren Augen zu sehen. Das immer wieder neue Erstaunen vor der Pracht der Natur. Es hat etwas Magisches, wie die Leute hier diesem Moment des Sonnenuntergangs entgegenfiebern. Auch etwas Verbrüderndes. Wahrscheinlich kommt man nirgendwo so schnell in Kontakt mit anderen wie hier. »Wollen Sie auch ein Glas Wein«, fragt mich eine Frau, deren Aufgabe es offenbar ist, eine ganze Gruppe von älteren Sunset Watchern mit Getränken zu versorgen. Nein danke, nach warmem Chardonnay aus einem Plastikbecher ist mir jetzt doch nicht. Trotzdem nett gemeint.
Wo ist Lucy? Huhu – sie winkt mir von der äußersten Ecke der Plattform entgegen, dort, wo die Fischer ihre Angeln unter das Geländer geklemmt haben, damit diese beim Biss eines Hais oder Tarpons nicht gleich in hohem Bogen ins Meer gerissen werden. Irgendwo habe ich gelesen, dass Fische in jenem Moment, da die Sonne untergeht, unter besonderer Spannung stehen. Und dazu neigen, unvorsichtig einen Köder zu verschlucken, in dem ein metallener Haken versteckt ist. Schlecht für den Fisch – gut für den Angler!
Mein Versuch, mich langsam zu Lucy durchzuquetschen, ist erfolglos. Zu eng stehen die Menschen jetzt dicht an dicht. Irgendwo plärrt aus einer Boombox der Song »Desperado« von den Eagles. Für meinen Geschmack immer schon eine Spur zu zuckersüß. Wird die versammelte Schar hier gleich womöglich gemeinschaftlich in eine weich gespülte Kuschelrock-Stimmung verfallen? Ich ahne Schlimmes. Nur noch wenige Minuten. Schon hat sich die Sonne teilweise hinter den Horizont geschoben, ihr glühend rotes Licht scheint jetzt nervös zu flirren. Nach oben hin schießen die Strahlen wie eine Korona ins Firmament. Und dann passiert es: Statt Händchenhalten und kitschigem Schmuse-Blues entsteht plötzlich ein erhabener Moment. Bittersüßer Abschied. Seit Urzeiten von den Menschen gefeiert. Mit der Gewissheit, dass er morgen genau so wiederkehren wird. Und wieder und wieder.
Etwa viereinhalb Milliarden Jahre ist die Sonne alt. Seit ihrer Geburt hat sie ungefähr die Hälfte des Wasserstoffs in ihrem Kern verbraucht. Etwa fünf Milliarden Jahre wird sie noch weiterstrahlen, ehe sie ihre Gashülle ins All pusten wird. Was bleibt, ist ein riesiger planetarischer Nebel. Aber bis dahin sind es ja noch 365 mal fünf Milliarden Abende, an denen wir uns an Sonnenuntergängen wie heute Abend erfreuen können. Wie tröstlich! Und wie schön, dass es in Südwestflorida so hervorragende Plätze gibt, um sich von der Magie verzaubern zu lassen. Ob von der Strandbar des »Naples Beach Hotel«, den Picknick-tischen im Lowdermilk Park, dem eleganten »Ritz-Carlton« am breiten Vanderbilt Beach oder dem knirschenden Muschelstrand von Bonita Beach. Ob vom Logenplatz in einem der großen Hotels in Fort Myers Beach oder der verrückten kleinen Künstlergemeinde Matlacha – jeder hat hier seinen Lieblingsplatz, und keiner ist gleich.
Lucy drängt auf Rückzug. Doch ich überrede sie, noch eine Weile zu bleiben. Denn der eigentliche Zauber eines Sonnenuntergangs zeigt sich erst in der halben Stunde danach. Wenn die restlichen Strahlen den Himmel in eine Farborgie tauchen, die vom zarten Blau über Pink bis hin zu Tieforange reicht. Wir verweilen also noch ein bisschen, berauschen uns an dem leuchtenden Himmelsgemälde und der Strahlkraft der Farben. Als es fast dunkel wird, schlendern wir wieder zurück, Hand in Hand. Das Naturschauspiel macht eben doch romantisch. Sogar Lucy.
Die Pier liegt jetzt im Dämmerlicht. Ihr Ende und der kleine Kiosk in der Mitte sind durch ein paar Glühbirnen hell erleuchtet, das Licht reflektiert im spiegelglatten Wasser. Bald ist es Nacht, nach all dem Trubel hat sich eine entspannte Ruhe eingestellt. Es ist wohl dieser ewig gleiche, verlässliche Rhythmus und die überwältigende Schönheit des Augenblicks, die uns alle immer wieder hierher zieht. »Komm, lass uns gehen«, sagt Lucy. Ja, aber morgen werden wir wieder hierher pilgern, süchtig nach dem Rausch der Farben.